Inmitten weiter steigender Infektionszahlen wird ein einheitlicher Corona-Kurs in Deutschland zusehends aufgeweicht. Gut eine Woche vor neuen Beratungen von Kanzler Olaf Scholz (SPD) mit den Ministerpräsidenten bekräftigte der Bund seine vorerst zurückhaltende Linie bei Lockerungen von Alltagsauflagen. Mehrere Länder gehen aber bereits mit Öffnungsschritten voran. Bayern kündigte am Montag zudem an, die ab Mitte März greifende gesetzliche Impfpflicht für Personal in Kliniken und Pflegeheimen zunächst nicht umzusetzen. Die CDU forderte, sie in ganz Deutschland auszusetzen. An diesem Dienstag sollen Corona-Impfungen auch in Apotheken starten.
Das Bundesgesundheitsministerium verwies auf die weiterhin „extrem hohe Zahl an Neuinfektionen“. Ein Sprecher sagte in Berlin: „Wir sind im Grunde genommen auf dem Weg zum Gipfel. Es ist jetzt davon auszugehen, dass in wenigen Wochen dieser Zenit überschritten sein wird, und dann wird es auch wieder einfacher werden.“ Ressortchef Karl Lauterbach sagte der „Bild“-Zeitung (Montag): „In das Maximum der Fallzahlen jetzt zu lockern, das bedeutet: Ich gieße Öl ins Feuer.“ Der SPD-Politiker fügte aber hinzu: „Ich glaube, dass wir deutlich vor Ostern lockern werden. Davon bin ich fest überzeugt.“
Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg laut Robert Koch-Institut (RKI) weiter auf einen Höchstwert von nun 1426,0 neuen Fällen pro 100 000 Einwohner – nach 1400,8 am Vortag und 1176,8 vor einer Woche. Die Gesundheitsämter meldeten insgesamt 95 267 neue Fälle an einem Tag.
Für den 16. Februar ist die nächste Bund-Länder-Runde zum weiteren Vorgehen geplant. Dort könnten Lockerungen Thema sein. Ende Januar hatten sich Scholz und die Länderchefs vereinbart, „Öffnungsperspektiven (zu) entwickeln für den Moment, zu dem eine Überlastung des Gesundheitssystems ausgeschlossen werden kann“.
Bayern will mehrere Beschränkungen lockern. So sollen Gaststätten wieder ohne Sperrstunde öffnen dürfen. Das kündigte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in einer Videokonferenz des Parteivorstands an, wie die Deutsche Presse-Agentur erfuhr. Bei Sport- und Kulturveranstaltungen sollen noch mehr Zuschauer zugelassen werden.
Hessen beendete bereits die 2G-Regel im Einzelhandel – also Zugang nur für Geimpfte und Genesene. Schleswig-Holstein, Berlin und Brandenburg planen dies. Baden-Württemberg arbeitet an Lockerungen, die Ende Februar greifen könnten. Beschlusslage von Bund und Ländern ist generell 2G im Handel, teils kippten Gerichte dies aber. Die AfD forderte generell eine Aufhebung der Corona-Maßnahmen.
Um die beschlossene Impfpflicht für Beschäftigte in Einrichtungen mit schutzbedürftigen Menschen gibt es weiter Ärger. Für Bayern kündigte Söder an, es werde „großzügigste Übergangsregelungen“ geben, was „de facto zunächst einmal auf ein Aussetzen des Vollzugs hinausläuft“. Für wie viele Monate werde man sehen.
CDU-Chef Friedrich Merz warf der Bundesregierung vor, Einrichtungen und Beschäftigte mit den Folgen dieser Impfpflicht allein zu lassen. „Wir müssen noch einmal neu darüber nachdenken, wie wir mit diesem Thema Impfpflicht umgehen“, sagte er in Saarbrücken. Die CDU habe damals zwar zugestimmt, allerdings in der Annahme, dass die Probleme gelöst werden könnten. Die Forderung nach einer Aussetzung sei „ganz einhellige Meinung von Präsidium und Bundesvorstand der CDU“.
Der Bundesgesundheitsminister kritisierte die Ankündigung Bayerns. „Laxe Vollzugsregeln der einrichtungsbezogenen Impfpflicht können nicht nur das Leben der älteren Menschen mit schwachem Immunsystem gefährden“, sagte Lauterbach. Sie gefährdeten zudem die Glaubwürdigkeit von Politik. „Auch die bayerische Landesregierung sollte das beschlossene Gesetz ernst nehmen.“ Die SPD-Gesundheitsexpertin im Bundestag, Heike Baehrens, warf Söder vor, den gemeinsamen Beschluss von Bund und Ländern und das von CDU/CSU breit mitgetragene Gesetz zu hintertreiben. Grünen-Chefin Ricarda Lang pochte darauf, es „zügig und pünktlich“ umzusetzen.
Das bereits im Dezember von Bundestag und Bundesrat beschlossene Gesetz legt fest, dass Beschäftigte in Pflegeheimen und Kliniken bis 15. März Nachweise als Geimpfte oder Genesene vorlegen müssen – oder ein Attest, nicht geimpft werden zu können. Arbeitgeber müssen die Gesundheitsämter informieren, wenn das nicht geschieht. Diese können die Beschäftigung in der Einrichtung untersagen. Lauterbach hatte bereits klargemacht, dass er eine Verschiebung ablehnt. Der Bund könne den Ländern aber bei einem einheitlichen Vorgehen helfen, wie mit konkreten Umsetzungsproblemen umzugehen sei.
Die Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz, Petra Grimm-Benne (SPD), pochte auf einen einheitlichen Weg. „Wer jetzt die gemeinsam beschlossene Impfpflicht in Frage stellt, setzt die Glaubwürdigkeit von Politik aufs Spiel“, sagte die sachsen-anhaltische Ministerin den Zeitungen der Funke-Mediengruppe und der Deutschen Presse-Agentur. In der Ministerkonferenz hätten sich alle Länder für eine einheitliche Umsetzung ausgesprochen.
Auch das Thüringer Gesundheitsministerium betonte: „Es ist aus unserer Sicht ganz wichtig, dass die Länder hier ein gemeinsames Vorgehen verabreden.“ Auf eine stufenweise Umsetzung habe man sich bereits verständigt. In Thüringen soll es Übergangsregeln für jene geben, die glaubhaft machen, dass sie sich noch impfen lassen wollen.
Corona-Impfungen sollen am Dienstag zusätzlich auch in Apotheken starten. Zum Auftakt sind rund 500 der etwa 18 500 Apotheken dabei, wie die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände mitteilte. Sie erwartet, dass die Zahl in den nächsten Wochen steigt. Am Montag legten bereits einige Apotheken in Nordrhein-Westfalen los. Voraussetzungen sind eine Schulung und geeignete Räume. Insgesamt haben nun 61,9 Millionen Menschen oder 74,4 Prozent der Bevölkerung einen Grundschutz, für den meist zwei Spritzen nötig sind. Mindestens 45,2 Millionen Geimpfte haben zusätzlich auch eine Auffrischimpfung.
Nach Kritik auch der mitregierenden FDP an RKI-Präsident Lothar Wieler erhielt dieser Rückendeckung. Er genieße „nach wie vor das volle Vertrauen der Bundesregierung“, sagte deren Vizesprecherin Christiane Hoffmann. Wirbel gab es zuletzt darum, dass das RKI den Genesenenstatus Mitte Januar von sechs auf drei Monate verkürzt hatte. Betroffene verloren damit abrupt den Zugang zu Restaurants, Bars oder Fitnessstudios. Dass das RKI die Frist festlegt, sieht eine neue Verordnung so vor – der Zeitpunkt kam aber überraschend.