Bayern und Deutschand droht eine vierte Corona-Welle im Herbst. Trotz niedriger absoluter Fallzahlen steigen die Infektionsraten derzeit wieder exponentiell an. Für die nähere Zukunft rechnet das Gesundheitsministerium in München zunächst damit, dass die Urlaubssaison mit ihrem erhöhten Reisesverkehr auch zu einem erhöhten Infektionsrisiko führen kann. «Deshalb muss in der nächsten Zeit eher mit einem weiteren Anstieg gerechnet werden», sagte ein Sprecher in München.
Was die weitere Entwicklung betrifft, so rechnet das Robert Koch-Institut in Berlin in Modellszenarien mit einem neuerlichen starken Anstieg der deutschlandweiten Fallzahlen ab Ende Oktober. Die Bevölkerung soll «frühzeitig darüber informiert werden, dass es im Winter wieder zu einer starken Belastung des Gesundheitswesens» und möglicherweise einer regionalen oder lokalen Überlastung kommen könne, heißt es in einem am Donnerstag veröffentlichten Papier.
Ein wesentlicher Indikator für die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus ausbreitet, ist die Reproduktionszahl. Diese gibt an, an wie viele Menschen ein Infizierter das Virus in einem bestimmten Zeitraum durchschnittlich weitergibt. «Bei SARS-CoV-2 beträgt dieses serielle Intervall 4 Tage», erläutert ein Sprecher des Landesamts für Gesundheit und Lebensmittel.
In Bayern liegt der R-Wert seit gut zwei Wochen wieder über 1, was auf eine rasche Ausbreitung des Virus hindeutet. «Bei einem R-Wert von über 1 ist ein exponentielles Wachstum gegeben», heißt es dazu bei der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie in Ulm. Exponentiell bedeutet, dass die Infektionszahlen nicht linear steigen, sondern sich in bestimmten Zeitabständen verdoppeln. Zu einem solchen rasanten Anstieg der Infektionszahlen kam es 2020 sowohl im Frühjahr als auch im Herbst.
Eine hypothetische Beispielrechnung: Der R-Wert für Bayern lag zuletzt bei etwa 1,2. So wären bei angenommenen 100 Infektionen am Freitag und unverändertem R-Wert nach dem «seriellen Intervall» von vier Tagen am Dienstag 120 neue Coronafälle in Bayern zu erwarten. In die Zukunft gerechnet wären bei unverändertem R-Wert Ende August um die 500 Infektionen am Tag zu erwarten, Ende September um die 2500, und Ende Oktober/Anfang November bereits über 10 000 neue Fälle.
Tatsächlich waren es am Freitag in Bayern nicht 100 neue Coronafälle, sondern laut RKI 247. Eine hypothetische Beispielrechnung ist keine Prognose, da die tatsächliche Entwicklung von sehr vielen Faktoren abhängt, nicht nur vom R-Wert. Das RKI betonte am Donnerstag, dass sein jüngstes Szenario für den Herbst und Winter keine Corona-Vorhersage sei, sondern eine mögliche Entwicklung aufzeigen soll. Manchmal wird aus der Möglichkeit aber Realität: So hatte die Gesellschaft für Epidemiologie im Frühjahr 2020 in Modellrechnungen aufgezeigt, dass im Herbst die zweite Welle drohte – wie sie dann auch tatsächlich eintrat.
Noch aber sind die Fallzahlen niedrig. Deswegen können «lokale Ausbrüche den Wert der Reproduktionszahl relativ stark» schwanken lassen, wie ein Sprecher des Gesundheitsministeriums in München sagt. «Wie sich das Geschehen weiterentwickelt, kann nicht vorhergesagt werden und wird weiter beobachtet.»
Eine große Rolle bei der Ausbreitung des Virus spielt die Delta-Variante, die mutmaßlich ansteckender ist als andere Varianten. Nach Angaben des RKI vom 14. Juli lag der Anteil der Delta-Variante an sämtlichen Neuinfektionen in Deutschland bis dahin bei knapp drei Viertel. «Es ist auf Basis der bisherigen Entwicklung davon auszugehen, dass der Anteil der Delta-Variante an der Gesamtzahl der Infektionen weiter zunimmt», heißt es beim Gesundheitsministerium.
Die große Hoffnung: Dank Impfungen und einer steigenden Zahl von Genesenen schreitet die Immunisierung voran – deswegen geht die Staatsregierung «von einer durchschnittlich niedrigeren Morbiditäts- und Mortalitätsrate» aus als im Jahr 2020. In die Alltagssprache übersetzt: Weniger Kranke und weniger Tote. Doch das ist keine Entwarnung. «Steigen die Infektionszahlen jedoch sehr stark an, steigt gleichzeitig das Risiko, dass es zu einer erhöhten Anzahl schwerer Erkrankungen kommt und die Hospitalisierungen wieder zunehmen», sagt der Ministeriumssprecher. «Dieses gilt es zu vermeiden.»